Ich kann nicht fliegen. Egal, wie viel Honig ich esse.

Seit kurzem sammle ich Velohonig. Ein Naturprodukt, denn Echter Velohonig wird mit Muskelkraft bewegt. Die Blumen, die Bienen und die Imker erlediVelohoniggen ihren Teil. Und dann heißt es: Mit dem Rennrad aufs Land, Imker suchen, ein Glas Honig kaufen und so weiter.

Dieses Hobby hat ein paar Vorteile. Es schmeckt. Die Sorten- und Geschmacksvielfalt steigt mit der Zahl der besuchten Imker. Fast immer ergibt sich dort ein gutes Gespräch. Ich umfahre die Zwischenhändler. Und langsam entsteht eine persönliche Landkarte mit Favoriten und interessanten Kandidaten. Schön auch zu wissen, wen ich loben darf, wenn es wieder mal geschmeckt hat: Direktvermarktung mit Umwegen und ohne, je nach Kondition und Honigbedarf.

Allein sind wir nicht. So berichteten Imker mehrfach beim Kauf am Gartenzaun von anderen, die Radtouren regelmäßig mit einer Honiglieferung verbinden. Nicht nur für den eigenen Vorrat, dabei kämen auch größere Rucksäcke zum Einsatz.

Nicht in allen Dörfern wird heute noch geimkert. Aber jede Antwort auf die Schlüsselfrage am Gartenzaun, ob es „hier“ Imker gäbe, die Honig verkaufen, verrät eine kleine Geschichte der jeweiligen Ortschaft. „Nee, hier gibt’s schon lange keine mehr. Die Alten sind längst tot.“ Die Antwort an einer Dorfstraße in der Lommatzscher Pflege lässt erahnen, was demografischer Wandel bedeutet. Die Imkerei war in den letzten beiden Jahrzehnten zumeist Beruf oder Hobby älterer Herren. Staatliche Ankauf- und Bestäubungsprogramme gibt es längst nicht mehr. Mais, Mais, Mais, Raps, Raps, Raps. Monokulturen prägen die Landschaft. Inzwischen finden Bienenvölker und mit ihnen die Imker in Städten und an deren Rändern mehr und länger Nektar und Pollen als auf dem Land. Die Pflanzenvielfalt sei in Städten heute häufig größer, heißt es. Und der Pestizideinsatz geringer.

Andererseits: In Oberlichtenau bei Pulsnitz gibt es eine Jungimkerschule. Beim Bauern, dessen Geflügel wir gern holen (Velobroiler!) erfahre ich: Neun Dorfbewohner haben jetzt wieder Bienen. Es besteht also Ansteckungsgefahr, in der Stadt wie auf dem Land. Und auch die Imker werden wieder jünger. Beim Urban Gardening, dem fröhlichen Straßen- und Brachenkampf, oder klassisch im Schrebergarten – von der neuen Lust am urbanen Gartenbau über die Stadtimkerei ist es zum Velohonig Sammeln kein weiter Weg. Bei allen Vorzügen des städtischen Lebens, manchmal will man einfach raus. Und wer das schafft, kann auch gleich ein Glas Honig mitbringen!

Ökobilanzen habe ich keine verglichen. Aber mal ehrlich: Ein Honig, der mit fossiler Energie aufs Honigbrot gelangt, hat doch einen Beigeschmack. Oder nicht?

Fahrräder und andere mobile Endgeräte sind gerade dabei, Autos als germanisches Statussymbol zu überrunden. Insofern wäre die Zeit wohl reif für ein neues Gütesiegel: Delivered by bike. Und damit ist nicht die letzte Meile ab Bioladen und Verbrauchergemeinschaft gemeint! Kaffee gibt es auf zwei Rädern, auch Konferenzen. Und Kuriere reiten mit Expresssendungen zu den Empfängern.

Groß ist der Bedarf. Velohonig eignet sich nicht nur für Wintervorräte und Geschenke, sondern auch für Visionen mit zwei Rädern. Ich stelle mir vor: Fahrradläden sind geborene Knotenpunkte für Velohoniglieferketten. Und jedes Jahr im Frühling treffen sich beide Branchen – die mit den Zweirädern und die mit den Bienen – zum Saisonstart im Stadtzentrum zur Verbrauchermesse! Für alle, die es nicht aufs Land schaffen. Die anderen fahren selbst und versorgen ihre Nachbarschaft. Dann wird deutlich: Velohonig ist ein Schmiermittel – soziales Kettenöl, sorgt für Gespräche und gute Laune. Eine offene Meisterschaft der Velohonigsammler bringt dann noch Sport ins Spiel.

Fast ganz sicher ist schon heute: 2013 wird das Jahr des Velohonigs. Fahrradclubs und Ökostromanbieter entdecken ihn als Prämie für Neumitglieder. Lastenräder werden dann serienmäßig mit Imkerhut gebaut. Zur Hochsaison stauen sich die Räder in Gauernitz, Oberpoyritz, Hetzdorf, Lomnitz und … – wie die Dörfer eben heißen. Die Ansprüche der Städter an Echten Velohonig werden bald steigen. Spätestens 2014 werden Honigschleudern nur noch mit Tretlager und Pedalen gebaut…

Wie viele Honiggläser passen auf ein modernes Lastenrad – 250? Die Welt, in der wir unser aller Honigbedarf (oder auch nur die Hälfte) mit echtem Velohonig aus Stadt und Region befriedigen, wird sich jedenfalls anders bewegen als heute. Wie viele neue Imkerinnen, Imker und Bienenvölker müssten dabei helfen? Und wer wird von dieser Honigwirtschaft profitieren? Imker*innen, Bauern, Fahrradhändler*innen, Allergiker, Krankenkassen – die Region und ihre Kreisläufe.

Wobei verkehrsträgerübergreifende – intermodale – Honigtransportketten auch einen Beitrag zur freizeitakademischen Begriffsklärung liefern: Ausflüge bleiben den Bienen vorbehalten. Denn ich kann nicht fliegen – egal, wie viel Honig ich esse. Und daher auch das Motto: Nächste Ausfahrt: Velohonig.

Der Text ist im Dezember 2012 im Reflektor erschienen, Wikidata-Item des Artikels: Q60231382.

6 Gedanken zu „Ich kann nicht fliegen. Egal, wie viel Honig ich esse.

    • Liebe Leser/innen,
      danke für das freundliche Feedback. Im http://www.imkerforum.de/showthread.php?t=32118 wird die Idee bereits aufgegriffen und weitergesponnen.
      Hinweise auf mit dem Rad liefernde Imker sind sehr willkommen – vielleicht bin ich ja mal in der Gegend. 🙂 Oder ich melde mich, um Ideen persönlich weiterzuspinnen. Und: Ich gelobe längere Berichte – nach dem Schnee.
      Ich wünsche: Schönes Wochenende!
      JB

  1. Hallo, das ist ja eine wirklich schöne Sache. Wenn du mal eine lange Tour planst und hier vorbeikommst, dann gebe ich ein Glas Honig aus. Ps der ist auch „autofrei“ produziert. Also mein Anteil, die Bienen nutzen aber wohl auch keins. Gruß Ina (FB: Harburger Bienen)

  2. Ja sehr schön, mal jemand mit einer Vision, so witzig es auch klingt, so ernst soll man so jemanden nehmen – und wählen, ich mache das mal so 2019

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