Aktuelle Forschungsfragen für kulturelle Gedächtnislücken

200 Jahre Radfahrerwissen in Sachsen

Karl Marx hat das Fahrrad nicht erfunden, aber auch er wird bald 200 Jahre alt. Tatsächlich hat Marx die Entwicklung des Fahrradverkehrs und der Fahrzeugindustrie in Sachsen nur indirekt und „nur“ ideell beeinflussen können, mittels seiner Theorien und Bücher.

200 Jahre Radfahrerwissen sind ein Anlass, um Forschungsfragen zu sammeln, die im Idealfall helfen könnten, Sachsens Verhältnis zum Fahrrad, zu uns Radfahrerinnen und Radfahrern und zum Radverkehr zu klären – und auch die spezifisch-sächsischen Verhältnisse, falls es sie in diesem Fahrradland wirklich gibt.

Marx‘ Ideen werfen eine Frage auf, die auch im ADFC bislang keine große Rolle spielte: Wie prägten die Arbeiter-Radfahrer und ihre Vereine um 1920 die Fahrradkultur in Sachsen? Gab es Konkurrenz mit anderen Radfahrervereinen oder punktuell Zusammenarbeit bei der Lobbyarbeit für Radwege? Welche Spuren sind vom Arbeiterradfahrerbund „Solidarität“ geblieben? In vielen sächsischen Arbeiterstädten dürfte es Arbeiterradfahrervereine gegeben haben.

Gab es in diesem Ort zwischen 1890 und 1920 einen Radfahrerverein? Das ist eine Frage, die jeder unterwegs stellen kann. Und: Ab wann radelten dort auch die Frauen? Mit diesen zwei einfachen Fragen beginnt „Radfahren als Citizen Science“, also: Bürgerwissenschaft mit dem Fahrrad. Einen Überblick über die zahllosen historischen Radfahrervereine zu bekommen, ist eine kleine Herausforderung. Das Jubiläumsjahr isr ein passender Anlass, um gemeinsam mit anderen Heimatforscherinnen und und anderen Forschern einen Einblick in neue Geschichten, Themen und Quellen zu erhalten.

Frage Nr. 3: In welchen Radfahrerbünden waren diese lokalen Vereine organisiert? Im Sächsischen Radfahrerbund (Leipzig), den es heute noch gibt, im Erzgebirgischen Radfahrerbund (Auerbach) im Lausitzer Radfahrer Bund (Pulsnitz), im Oberlausitzer Radfahrer-Bund (Zittau) oder in den nationalen Organisationen: Allgemeine Radfahrer-Union, Deutscher Radfahrer-Bund und „Solidarität“? Die Welt des Radsports-, Radwanderns, Korso-, Reigen- und Saalfahrens war unübersichtlich vor 110 Jahren, voller regionaler Besonderheiten und Geschichten, die ebenfalls entdeckt werden können.

Ostern 1900 zog Georg Pauli als junger Lehrer nach Demitz-Thumitz, wo er mit den Mitgliedern des dortigen Radfahrervereins den 1906 den Lausitzer Radfahrer-Bund gründete, „der sich bald“, so Georg Pauli in 1944 seinen Memoiren, „über die sächsische und preussische Lausitz ausbreitete und zuletzt über 6000 Mitglieder und ca. 200 Vereine zählte.“ Pauli schrieb für Tageszeitungen, für die Deutsche Radler-Post, die im Sommerhalbjahr 14-tägig erschein, und die Lausitzer Radlerpost. Pauli war ein Tausendsassa und hat über die Lausitz hinaus Spuren hinterlassen. Daraus ergibt sich Frage Nr. 4: Wer waren und sind in Sachsen die Persönlichkeiten, die Fahrradkultur prägten? Waren dabei auch Frauen? In Leipzig forcierte der Schweizer Verleger Theophil Weber 1891 die Abspaltung des Sächsischen Radfahrerbunds vom Deutschen Radfahrer-Bund. Und Weber verfasste mehrere Tourenbücher für Radfahrer, von denen heute einige in der SLUB Dresden digitalisiert wurden und mit Open Access frei online verfügbar sind. Auch er hat säschsische Fahrradgeschichte geschrieben. Wer noch?

Alle diese glorreichen Radfahrer nutzten ihrerseits die renommierten Radfahrerkarten des Verlegers Robert Mittelbach aus Kötzschenbroda und Leipzig oder anderer (Leipziger) Verlage. Forschungsfrage Nr. 5: Wie haben geschäftliche Interessen und Verbindungen zwischen Verlegern, Radfahrerbünden, Verlagen und ihrem Publikum seinerzeit die Fahrradkultur geprägt? Zufall, oder nicht!? Auch Georg Pauli baute sich in Demitz-Thumitz nebenbei eine kleine Druckerei auf. Er brachte sich das Setzt- und Druckhandwerk dafür selbst bei. 17 Jahrgänge „Paulis Handbuch für die Radfahrer Sachsens“ finden sich in seiner Publikationsliste.

In welchen Archiven, Bibliotheken und Privatsammlungen gibt es weitere Geschichten, Bücher und historische Quellen mit sächsischem Radfahrerwissen? 2017 wird es Zeit, dieses Wissens wieder sichtbar zu machen – in Aufsätzen, in Wikipedia-Artikeln, digitalisierten und neuen Büchern.

Die Wiege des Fahrradlands Sachsen stand – historisch gesehen – nicht nur in Chemnitzer und Dresdner Fahrradfabriken. Fahrradwerkstätten, Druckereien waren in den kleinen und großen Orten Sachsens Basis oder auch Fortsetzung von und für ganz andere Industriezweige: Feinmechanik, Nähmaschinen und Kraftfahrzeugbau.

Wo und wann wurden in Sachsen die ersten, längsten und sichersten Radwege gebaut? Mehr Radfahrerwissen bedeutet eben auch: Jedem Lückenschluss wohnen heute 200 Jahre Forschungsfragen inne.

Der Text ist im April 2017 im Reflektor Magazin erschienen.

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