Erschienen In RadKulTour, Sächsische zeitung: Radfahrerwissen und Fernwehforschung
Rund um Bautzen, Görlitz und Zittau wird seit über 120 Jahren Fahrrad gefahren – bis nach Eibau, Löbau und Hoyerswerda, Bischofswerda und Dresden. Im Jahr 1900 erschien im Verlag der Gebrüder Müller in Bautzen das „Spezial-Tourenbuch für Radfahrer und Touristen durch die Sächsische Oberlausitz.“ Darin enthalten sind 34 Touren mit Beschreibungen, Werbung für Gasthäuser, Fahrradfabriken und -händler. Ob das angekündigte Ergänzungsheft mit weiteren Strecken, die die Leser bitte auf den leeren Seiten am Ende notieren sollten, im Frühjahr 1901 wie angekündigt erschien, wissen wir noch nicht. Vielleicht wartet es in einer Bibliothek oder Privatsammlung noch darauf, entdeckt zu werden. Das Spezial-Tourenbuch für die Oberlausitz war nicht das erste Tourenbuch für Radfahrer, möglicherweise aber das erste speziell für die Gegend zwischen Dresden, Preußen, Schlesien und Böhmen.
In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr Radwanderführer gedruckt. Geschrieben wurden sie von Radfahrern: Männer, die in Radfahrvereinen dafür sorgten, dass die Mitglieder allein oder bei gemeinschaftlichen Ausfahrten den Weg und zum Ziel fanden. Themen: Technische Ausstattung, Bekleidung, Ernährung, Gesundheit, Wetter, Straßenverhältnisse, Tipps für den Grenzübertritt und die Fahrt ins Nachbarland, Anzeigen von Gasthöfen, Werkstätten, Händler, Fahrrad- und Nähmaschinenfabriken.
„Das Bundeshandbuch“ stand zum Beispiel in der Liste der Vorteile, die eine Mitgliedschaft im Lausitzer Radfahrer-Bund bieten sollte, an dritter Stelle (von 14). GPS gab es noch nicht, auch keine Tracking-Apps. Später entdeckten auch Verleger Radfahrerbücher und Radfahrerzeitungen als publikumsträchtige Produkte. In Leipzig druckte der Schweizer Verleger Theophil Weber mehrere Tourenbücher. Er gründete 1891 auch den Sächsischen Radfahrerbund, den es heute noch gibt. Was trieb ihn an: Das Radfahren, Verbandsinteressen und -politik, Umsätze durch den Buchverkauf oder eine Mischung!? In Hamburg verfasste wenig später Gregers Nissen – der „deutsche Fahrradpionier und Radsportfunktionär“ – die Reihe „Wanderbücher des Deutschen Radfahrer-Bundes“. Band 4 „Ostdeutschland“ erschien 1910 und 1925. Im Begleitwort schrieb Nissen 1925: „Die zweite Auflage von Ost-Deutschland umfasst das selbe Gebiet wie die I. Auflage, obgleich unserem Vaterland grosse Gebietsteile entrissen wurden und der Korridor uns von Ostpreussen trennt. Ich habe die Hauptstrassen durch die abgetrennten Teile aufgenommen, in der Hoffnung, dass es auch mal wieder anders kommen kann.“ Der 1. Weltkrieg hatte die Geografie auch für die Radfahrer verändert.
Tourenbücher und Radfahrerkarten waren Mittel der Wahl für die Streckenplanung. Gedruckt im Oktavformat passten Tourenbücher in die Tasche. Gut zu erkennen, wenn man ein Exemplar im Antiquariat kauft: Beiliegende Kartenblätter fehlen häufig. Einbände sind abgerieben. Aber: Notizen auf den leeren Seiten am Ende sind selten.
Anfangs waren Fahrräder ein exklusives Hobby bürgerlicher Kreise. Technischer Fortschritt und sinkende Preise machten Fahrräder für jeden erschwinglich. Die Zahl der Fahrradbesitzer stieg, sodass es lohnte, Rad-Reisebücher, Wegweiser, Wanderbücher, Taschen-Atlanten, Fahrtenbücher, Fahrwanderbücher oder ein Radlemecum zu schreiben und in steigenden Auflagen zu drucken. Mehr Freizeit für viele verstärkte die Wünsche, das Um- und Ausland zu erkunden. Im 20. Jahrhundert entdeckten auch Zeitungsverlage Radfahrerbücher als Zusatzprodukt. 1927 zum Beispiel der Verlag der Leipziger Neuesten Nachrichten mit dem „Großen Tourenbuch für Radfahrer mit Ausflügen für Radfahrer in Mitteldeutschland und Anschlussgebieten„. In Leipzig entstanden Tourenbücher im Verlag des „Stahlrad“ bei Willy Werner und Theophil Weber. Karten für Radfahrer – die Gebrauchsliteratur neben dem Tourenbuch – wurden in Robert Mittelbachs Verlag in Kötzschenbroda bei Dresden gezeichnet.
Später wurde das Automobil zum Statusmobil und manch‘ erster Radfahrer- und Radwege-Lobbyist forderte nun „gute Straßen“ – insbesondere für Kraftfahrzeuge. Radfahrervereine und -bünde waren Interessenvertretungen. Konkurrenz untereinander und Meinungsstreit bezüglich Profisport, Amateursportsgeist und Alleinvertretungsansprüche sorgten regional und „national“ für Dachverbandsvielfalt. Neben dem Lausitzer Radfahrer-Bund in Pulsnitz gab es den Oberlausitzer Radfahrer-Bund in Zittau, die Arbeiterradfahrer der „Solidarität“ sowie Vertretungen (Consulate) der Allgemeinen Radfahrer-Union und des Deutschen Radfahrer-Bundes. In Dresden publizierte der Sächsische Radfahrer-Bund Bezirkshandbücher und Jahresprogramme. Ob auch der Erzgebirgische Radfahrer-Bund (Auerbach) Tourenbücher druckte und welche Vereine dort Mitglied waren, ist nicht bekannt.
Im Jahrbuch der deutschen Radfahrer-Vereine von 1897 sind die damaligen Vereine der Radfahrer zusammengefasst. Die darin erwähnte Tour „Quer durch die Sächsische Schweiz“ ist zumindest nah dran an der Oberlausitz.
Was wissen wir heute über die alten Tourenbuch-Autoren? Verfasst wurden Tourenbücher von Radfahrern, heute würden wir sagen: von ehrenamtlichen Enthusiasten, die das gesammelte Wissen ihrer Radtouren für Gleichgesinnte niederschrieben – Funktionäre des Deutschen und des Sächsischen Radfahrerbundes, fahrradfahrende Lehrer und Verleger. Oft verbunden mit einem Dank für sachdienliche Hinweise, zuweilen auch mit der Klage, dass andere sich beteiligen mögen, damit eine Neuauflage nicht wieder so lange auf sich warten ließe. Ein Beispiel aus dem Norden: Gregers Nissen war Volksschullehrer und trat 1891 dem Hamburger Gau-Vorstand des Deutschen Radfahrer-Bundes bei. In der Lausitz begann Georg Pauli 1901 in Demitz-Thumitz seine Reihe „Paulis Handbuch der Radfahrer Sachsens“ zu verlegen. 17 Jahrgänge erschienen insgesamt, schrieb er später in seinen Memoiren. Auch er war Lehrer an der Volksschule. Auch er wurde Radsport-Verbandsfunktionär, als er 1906 mit den Mitgliedern seines Radfahrervereins in Demitz-Thumitz den Lausitzer Radfahrer-Bund gründete, dessen Vorsitzender er bis 1920 blieb. Georg Pauli prägte das Vereinsleben seiner Heimat, nicht nur das Radwandern. Ähnlich wie der Unternehmer und Verleger Theophil Weber in Leipzig baute sich Georg Pauli nebenbei in Demitz-Thumitz eine kleine Druckerei auf und er brachte sich das Setzer- und Druckerhandwerk selbst bei. War das Zufall? Oder passten die Interessen hier wie dort einfach zusammen: Wie haben geschäftliche Interessen und Verbindungen zwischen Verlegern, Radfahrerbünden, Verlagen und dem Publikum um 1900 Fahrradkultur geprägt? Es gibt noch offene Forschungsfragen.
Die alten Tourenbücher funktionieren wie Spurenbücher – nicht nur für Radfahrer. Sie enthalten Tourenbeschreibungen, dankende Vorworte, Verbandsinterna, Anzeigen der lokal und regional ansässigen Wirtschaft, Gebrauchsgrafik, weltpolitische Anspielungen – und sie sind Quellen für Technikhistorikerinnen.
In den vergangenen zwei Jahren wuchs im Blog der SLUB Dresden eine Linksammlung digitalisierter historischer Tourenbücher und Radfahrerkarten. Allesamt sind Open Access-Digitalisate, teils auf Nachfrage freundlicherweise digitalisiert von den besitzenden Bibliotheken, teils per Digitalisierungsauftrag als „E-Book on Demand“ (EOD) entstanden. In der Bibliografie sind diese digitalen Tourenbücher zusammengefasst. Als Regionalliteratur erschienen lagern sie heute europa- und weltweit verstreut in vielen verschiedenen Regionalbibliotheken. Möglicherweise können diese Wegweiser für Radfahrer eines Tages digital zusammengefasst und verknüpft werden, in der Europeana zum Beispiel – vielleicht als OpenStreetMap-Karte, angereichert mit zusätzlichen historischen Dokumenten (Postkarten, Adressbüchern, Zeitungen) oder in Apps für die mobile Radtourenplanung.
Digitalisiert gibt es in der SLUB Dresden das Touren-Buch des Sächsischen Radfahrer-Bundes von 1899, das Tourenbuch für Radfahrer vom Königreich Sachsen unter Berücksichtigung der angrenzenden Staaten und das Tourenbuch des Gau 21 „Sachsen“ von 1893 sowie zwei Bände des Wegweisers durch Mitteldeutschland von 1896. Diese Touren führen bis nach Böhmen.
1893 schrieb Max Hertel im Tourenbuch des Gau 21:
Die Strassen Sachsens gehören durchweg den besten
Deutschlands an und sind es hauptsächlich die Gebirgs-
strassen, welche sich vorzüglich und wetterfest zeigen.Die Beschwerlichkeiten, welche das Erreichen von
Höhen durch Schiebparthien verursacht, werden immer
durch grossartigen Naturgenuss reichlich gelohnt und
durch äusserst schöne Thalfarten aufgewogen, deshalb
ist aber auch für Touren im Gebirge eine gute Bremse
unerlässlich, indem die Strassen theilweise starke Gefälle
und kurze Krümmungen aufweisen.
Gute Fahrt!
Dieser Artikel erschien im April 2017 in der 2. Ausgabe von RadKulTour im Verlag der Sächsischen Zeitung: hier ein PDF zu Reinschnuppern. Ich lizensiere diesen Text unter CC BY 3.0.