Der Lehrer als Heimatforscher. – Aus dem Lande Belgard, 1924

Der Lehrer als Heimatforscher.

Von Studienrat Dr. Otto Dibbelt, Kolberg

Im Jahre 1921 richtete Dr. Hans Lamer an eine Reihe von hervorragenden Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern, Großkaufleuten und Technikern die Anfrage: „Inwiefern kann die deutsche Schule zur Erhaltung und Weiterbildung der geistigen und wirtschaftlichen Kultur Deutschlands beitragen?“ In einem schmalen Büchlein hat der Leipziger Verlag Quelle und Meyer die eingegangenen Antworten herausgegeben. Da ist es überaus bedeutsam für die immer noch geltende Vorherrschaft des Intellektualismus, daß der Geologe Joh. Walther der einzige unter den führenden Männern ist, der die Forderung nach eigener Beobachtung erhebt und dem Verlangen
Ausdruck gibt, daß nicht das Buch, sondern das Leben, nicht das Ohr, sondern das eigene Auge unser Führer sein soll. „So muß der Unterricht von der Universität bis zur Volksschule auf Eigenbeobachtung des Schülers begründet werden. Was der angehende Theologe oder Psychologe, der Jurist als Kenner des öffentlichen Lebens, der Arzt als Naturbeobachter, der Lehrer als vielseitiger und weitherziger Pädagoge sich innerlich zu eigen gemacht hat, das wird er in seinem Beruf am erfolgreichsten verwerten.“ Der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ist in den Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die vier oberen Jahrgänge der Volksschule diesem Gedanken nachgegangen, wenn er fordert: „Die Mitarbeit der Schüler darf nicht in der Hauptsache im Aufnehmen der Bildungsstoffe bestehen, sondern die Unterrichtsergebnisse sind unter Führung des Lehrers auf dem Wege der Beobachtung, des Versuchs, des Schließens, des Forschens zu erarbeiten“ und an einer andern Stelle: Kinder sind anzuleiten, die Dinge, das Leben und die Vorgänge in der Natur zu beobachten und zu beurteilen.“ Wo aber können diese Dinge, das Leben und die Vorgänge in der Natur anders beobachtet werden als im eigenen Heim, im Garten, auf dem Felde, der Wiese und im Walde, mit einem Wort, in der Heimat. In innigster Beziehung mit den Richtlinien stehen die Leitsätze des Reichsschulausschusses
vom April 1922 über Schule und Heimat, wenn es dort heißt: „Die Lehrer sind mit der Heimaterkundung und Heimatforschung durch wissenschaftliche Einrichtungen vertraut
zu machen.“

Will also der Lehrer seiner Aufgabe gerecht werden, muß er sich der Heimatforschung zuwenden. Diesterweg hat das Wort geprägt, jeder Lehrer ein Naturforscher. Da aber
die Naturkunde in erster Linie Heimatkunde ist, gilt das Wort:

„Jeder Lehrer ein Heimatforscher.“

Nun zum Begriff: „Heimat.“

Im Oktober des Jahres 1909 fand in Paris die erste internationale Heimatschutztagung statt. An die Vorträge schloß sich eine lebhafte Aussprache u. a. auch über die Frage: im Deutschen unter Heimat und Heimatschutz verstanden wird und wie diese Begriffe im Französischen wiederzugeben seien.“

Für „Heimat“ wurden die Bezeichnungen la patrie, la petite patrie, le pays u. a. vorgeschlagen, aber bei der weiteren Erörterung gab man zu, daß sie den Sinn des deutschen Wortes nicht eigentlich träfen. Aehnliche Schwierigkeiten ergaben sich bei der Uebertragung des Wortes „Heimatschutz.“ Nach längeren Auseinandersetzungen gelangten die französischen und belgischen Redner zu der Auffassung, daß es am besten sei, die deutschen Bezeichnungen in den französischen Wortschatz aufzunehmen und von le heimat und le heimatschutz zu sprechen.

Auch im Englischen fehlt ein Wort, das sich mit dem deutschen „Heimat“ völlig deckt, obwohl die Vokabeln home, land, homeland und country bisweilen wohl im Sinne unserer Bezeichnung Heimat gebraucht werden. — Ebenso fehlt inden nordischen Sprachen ein einfaches Wort dafür, doch kann der Begriff „Heimat“ durch ein anderes, zusammengesetztes Wort ausgedrückt werden, wie beispielsweise im Schwedischen
durch hembyad und hemtrakt. Ueberhaupt wird man sagen können, daß die Bezeichnung „Heimat“ der deutschen Sprache eigentümlich ist, und daß in anderen Sprachen ein entsprechendes Wort als lautliches Gebilde fehlt. Nach einer Mitteilung des uns wohlbekannten Germanisten Professors Gustav Röthe, Berlin, tritt das Wort heimnoti, heimare erst in späthochdeutscher Zeit (10.—12. Jahrhundert) auf. Es ist
abgeleitet von heim, das ursprünglich das Lager im Hause, dann auch das Haus selbst bedeutet.

Grimms Wörterbuch gibt folgende Erklärungen für Heimat: 1. das Land oder der Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat: 2. der Geburtsort oder ständige Wohnort: 3. das elterliche Haus: 4. in freierer Anwendung, z. B. dem Christen ist der Himmel die Heimat.

Wenden wir uns dem Inhalt dieses Wortes zu. Alle die unsichtbaren, unendlich feinen Fäden, die den Menschen mit seinem Volke verbinden, Muttersprache, Märchen auf
Mutters Schoß, all der unsagbare, süße Zauber, mit dem eine geheimnisvolle Macht Menschen und Heimatwinkel zusammen webt, Meeresrauschen, Abendläuten, alle Wonne und Weh, die ein Menschenherz an Vater und Mutter kettet, an Gespielen und Spiel und die stillen Freunde in Wald und Feld, alles was der Jüngling beim Abschied vom Vaterhaus in die Welt hinaus nimmt als eigenstes, heiligstes Gut, was
dem Manne die armseligste Hütte lieb und traut macht, was ihm Hort und Halt in den schwersten Stürmen des Lebens sein kann, was die Mär von den versunkenen Glocken an namenloser Sehnsucht aufrührt — das verlorene Paradies der Kindheit, das fasst das stille feine Wort: Heim.“ Aber wie sieht es heute aus in so vielen Häusern, in denen dieser Geist erstorben, der immer springende Quelle versiegt ist. Mir merken, warum die Vielen im Lande kein Vaterland kennen; der wer kein Heim kennen gelernt hat, der kann auch nicht wissen, was Vaterland heißt.

Hier setzt unsere Arbeit ein, vertretenes Land wieder urbar zu machen, verschüttete Quellen wieder zu beleben. Die Erziehung zum wahren Heimatbewußtsein ist der Weg zu deutscher Wiedergeburt. Und es scheint, der einzige Weg
zu sein.

Ein Ministerialerlaß vom 4. Febr. d. Js. legt es den pädagogischen Arbeitsgemeinschaften nahe, sich mit Heimatforschung zu beschäftigen, der Minister schreibt:

„Die Förderung der Heimatpflege durch die Heimatkunde erscheint auch mir besonders wichtig. Ich glaube aber, daß auch mit Rücksicht auf die Unmöglichkeit, bei der augenblicklichen Finanzlage des Staates besondere Staatsmittel dafür aufzuwenden, versucht werden muß, die Aufgabe von unten auf und in der einfachsten Weise anzufassen und sich entwickeln zu lassen. Ich bemerkte vorweg, daß die Pflege
der Heimatkunde eine besondere Aufgabe aller Lehrer ist und daß der zweckmäßigste Weg zur Förderung dieser Bestrebungen der über die bereits bestehenden Arbeitsgemeinschaften sein wird. Ich beauftrage daher die Regierung, zunächst den
bestehenden Arbeitsgemeinschaften für Junglehrer dringend zu empfehlen, die Heimatkunde ihres Kreises zu einem besonderen Gegenstand der Beratungen in den Arbeitsgemeinschaften zu machen, einige Arbeiten darüber vorzulegen, Heimatgeschichte, heimatliche Wetterkunde, Pflanzen- und Tierwelt, Vorgeschichte usw. für die eigenen Schulen zu bearbeiten und etwaige Ergebnisse eigener Forschung der Regierung einzureichen. Die Regierung wolle ferner die Einrichtung von Kreisarbeitsgemeinschaften möglichst aller Lehrer und Lehrerinnen oder ihre Angliederung an bestehende Arbeitsgemeinschaften zur Lehrerfortbildung anregen. Je nach örtlichen Verhältnissen könnten diese wenigstens auf dem Gebiet der pädagogischen Heimatkunde zu einer allgemeinen Arbeitsgemeinschaft erweitert werden.“

Unsere Frage wird also sein: Wie treibe ich Heimatforschung? Ordnen wir unser Material und bringen die einzelnen Teilgebiete, die der Minister nennt, in eine bestimmte
Reihenfolge:

A. Die Natur der Heimat:

  1. Lage,
  2. Oberflächengestaltung und Untergrund,
  3. Klima,
  4. Pflanzen- und Tierwelt,
  5. Naturdenkmäler und ihr Schutz.

B. Die Kultur der Heimat:

  1. Urgeschichte,
  2. Geschichte,
  3. Volkskunde.

Als ich 1920 auf Veranlassung der Universität Greifswald eine längere Studienfahrt durch Schweden unternahm, kam ich durch einen Irrtum in eine Gegend, wo niemand
deutsch sprechen konnte; und ich beherrschte noch zu wenig das Schwedische, um mir alles zu erfragen. Ich wußte nicht, wie weit ich von der Küste, wie weit von einem Fluß oder größerem See entfernt war. Die Karten von der geol. Landesanstalt Stockholm hatten mich nicht erreicht. Erst als ich in einem Pfarrhaus eine Karte des Gebietes fand, war es mir wie eine Erlösung. Nun konnte ich planmäßig meine Studien treiben. Aehnlich wird es vielleicht manchem jungen Kollegen ergangen sein, als er in ein weltentlegenes Dorf verschlagen wurde. Solche Not beseitigt die preußische geol. Landesanstalt, die das Meßtischblatt, eine Karte im Maßstabe von 1:25000 herausgegeben hat, die uns vorzüglich über unsern Ort, ob Dorf oder Stadt, unterrichtet, und uns als unentbehrliche Unterlage für unsere Forschungen dient; denn jeder Weg und Steg, jede Höhe durch Schichtlinien verbunden, jeder Fluß, Bach und Graben, jedes Moor, jede Wiese, jeder Wald streifen ist auf dem neusten Meßtischblatt zu finden, das durch jede Buch- und Papierhandlung leicht zu beschaffen ist. In jeder Schule sollte ein Meßtischblatt hängen und eins für Wanderungen zur Verfügung sein, das auf Leinwand aufgezogen ist.

(Fortsetzung folgt.)

Ein oft gebrauchtes unaufgezogenes Kartenblatt hat bald seinen Wert verloren. Das Meßtischblatt ist unbedingt notwendig für jede Arbeit in der Heimatkunde und durch
nichts zu ersetzen. Im Unterricht kann der Maßstab von 1:25000 leicht mit den Kindern auf 1:5000 vergrößert werden, eine Arbeit, die die Kinder vorzüglich in das Verständnis der Karten einführt. Ich habe vor wenig Tagen eine solche Karte bei einem jungen Kollegen in unserm Kreise gesehen. Die Kinder hatten selbst gemessen, selbst gezeichnet, gemalt und das Blatt selbst aufgeklebt und lackiert.

Um die Lage der Nachbarorte zu bestimmen und für weitere Wanderungen in das Gelände ist die Karte des deutschen Reiches, die sogen. Generalstabskarte im Maßstabe von 1:100 000 zu beschaffen. Diese beiden Kartenblätter sind das Rüstzeug des Heimatforschers und geben ihm Aufschluß über die Oberflächengestaltung. Dringen wir nun tiefer und sehen uns die Bodenschichten in einer Kiesgrube an, so kommen wir in das Gebiet der Geologie. Auch da sind wir in der glücklichen Lage, für einen großen Teil unserer Provinz geologische Karten nachzuweisen, die uns durch eine bestimmte Färbung bestimmte Formationen anzeigen. Nun sind wir hier in Pommern geologisch nicht so reich bedacht wie etwa in Thüringen oder im Harzgebiet; doch will ich hier gleich hervorheben, daß unsere Provinz keineswegs nur aus
dem dicken Schuttmantel der Eiszeit besteht, sondern daß von der obersten Dyas, der Nachkohlenzeit, an alle Formationsglieder mit fast sämtlichen Unterstufen im Lande unter der Diluvialbedeckung vorkommen. Aber auch aus den ältesten Formationen haben wir Belegstücke, wenn sie auch nicht unmittelbar unserm Boden angehören. Da wurde mir neulich in einer Konferenz eine versteinerte Walnuß und ein
versteinerter Pilz gebracht. Die Walnuß tritt erst in der zweiten Stufe des Tertiärs (dem Oligozän) auf und könnte etwa 30—40 Millionen Jahre in unserm Boden geruht haben.
Es stellte sich aber bei näherer Untersuchung heraus, daß wir es mit einem Kieselschwamm des Silurs zu tun hatten, mit der Astylospongia praemorsa, die ich auf dem Exerzierplatz bei Anklam, dann bei Stettin und hier im Kreise mehrfach gefunden habe. Aber welch ein Zeitunterschied; dort 90—30 Millionen Jahre, hier im Silur etwa das Zehnfache. Der versteinerte Pilz erwies sich als eine Koralle derselben Formation Wir sehen also, daß sich Versteinerungen nicht nur auf Rügen, bei Kammin, bei Zarnglaff oder in ähnlichen Kreide- und Kalkgruben finden sondern daß auf jedem Acker und gerade in den entlegenen Dörfern Diluvialgeschiebe oft in nicht geringer Anzahl zu sammeln sind. Die gefundenen Stücke bitte ich aufzubewahren. Erst durch genauere geol. Durchforschung aller. Nachbargebiete, insbesondere Mecklenburgs, Dänemarks, Bornholms und Schonens sind wir in der Lage, diese Fundstücke auszuwerten. Welche bedeutsame Rolle die Geologie im Wirtschafts- und Kulturleben spielt, haben wir hier unmittelbar vor Augen. Unter der Stadt Kolberg und weiter im Gelände liegen die ältesten bisher in der Provinz nachgewiesenen Schichten des Oberen Zechsteins in Gestalt von Kochsalzlagerungen. Als Lösung dringen diese auf Klüften und Spalten aus der Tiefe auf und treten noch heute an der Persante beim Pumpwerk, am Holzgraben und in der Nähe der Flußbadeanstalt zutage. Diesem Mineral verdankt Kolberg seine Gründung, vornehmlich seine Entwicklung, und wir danken ihm, daß wir hier unsere Tagung halten sönnen. Denken Sie weiter an die Aufregung über die vermeintlichen Petroleumquellen in Vorpommern und über die ersten Brannkohlenfunde in Hinterpommern. — Die Geologie ist noch lange nicht ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt. Hier bietet sich für uns Gelegenheit zur Betätigung, zum wirklichen Forschen.

Aus der Lage und der Oberflächengestaltung ergibt sich das Klima, für den kleineren Kreis die Witterung. Durch Beobachtungen am Tages- und Nachthimmel, durch Messungen von Wärme, Wind, Regen und Schnee lassen sich Zusammenhänge gewinnen, aus denen man allmählich eine heimatliche Wetterkunde ableiten kann. Ich habe mehrere Schulen kennen gelernt, in denen Schüler selbständig den Regenmesser, das Barometer und Thermometer ablasen und die Beobachtungen eintrugen, um sie bei gegebener Gelegenheit im Unterricht zu verwenden.

Lage, Bodenbeschaffenheit und Klima lassen auf die Pflanzen- und Tierwelt schließen. Und gerade die Abhängigkeit der Pflanzen und Tiere vom Boden, die okologische Behandlung ist überaus wichtig, besonders auch für die Landschulen. Diese systematisch-ökologische Betrachtungsweise setzt hinreichende Kenntnis der Flora voraus. Es ist durchaus notwendig, daß jeder Lehrer in der Lage ist, an der Hand
einer guten Flora die Pflanzen seiner Heimat zu bestimmen. Ich weiß sehr wohl, daß mancher Kollege im einsamen Dorf, durch Mißerfolge entmutigt, schließlich die Arbeit aufgibt. Da ist ein Zusammenschluß Gleichgesinnter zu empfehlen. Eine vorzügliche Stütze für die floristische Arbeit ist die Einrichtung eines Herbariums, das zu jeder Zeit die Möglichkeit gibt, die pflanzliche Zusammensetzung des Geländes zu erfahren. Auf dieser notwendigen Grundlage wird nun weiter gearbeitet.

(Fortsetzung folgt.)

Will sich der Heimatforscher zur wissenschaftlichen Arbeit durchringen, muß er sich einem kleinen Spezialgebiet zuwenden, irgend einer ihm lieb gewordenen Familie
und innerhalb der Familie einer Gattung und innerhalb der Gattung einer Art. Sie ist dann nach allen verschiedenen Standorten zu durchprüfen. Die Nachbararten treten heran. Wir kommen zur sicheren Abgrenzung der besonderen Art. Und nun erst beim Abprüfen all der Mittelwerte innerhalb einer Spezies sind wir in der Lage, eine Variationsreihe aufzustellen und unter Umständen eine Mutation nachzuweisen. — Bei dem reichen Wechsel in der pommerschen Landschaft haben wir ganz besondere Möglichkeiten, pflanzen geographische Studien zu machen. Hier und dort werden wir
Zeugen früherer Erdperioden entdecken und durch diese Relikte ungeahnte Aufschlüsse über die frühere Besiedlung unserer Heimat erhalten. Ich will hier nur an das Vorkommen der schwedischen Kornellkirsche (Cornus suecia) erinnern, die
sich weder in West- noch Ostpreußen und auch nicht in Mecklenburg, in Schleswig-Holstein nur im Westen und Norden findet, die in Pommern nur einmal vorkommt und zwar in dem Gebiet der Stadt, in der sie heute als Gäste weilen.

Auf unseren Wanderungen werden wir immer mehr erfahren, welch innige Beziehungen zwischen Geologie und Botanik bestehen. Ohne Schwierigkeit können wir oft die Flora
vorherbestimmen, wenn wir die geol. Formationen kennen, und ebenso umgekehrt beim Anblick einer Pflanze auf die Zusammensetzung des Bodens schließen. Wo hier an den vorher schon genannten Stellen Sole aus der Tiefe aufdringt,finde n wir eine Pflanzengruppe von ganz bestimmter Zusammensetzung, die Salzpflanzen oder Halophyten. Treffe ich nun an einer mir noch unbekannten Stelle im Gelände eine der obligaten Salzpflanzen, so darf ich sicher sein, daß sich Salzlösung im Boden befindet.

Und welche Welt erschließt sich uns, wenn wir das Mikroskop benutzen. Der verachtete Tümpel, das Moor, der Graben, sie alle werden zu einer Quelle der Schönheit, von der das unbewaffnete Auge nichts ahnt. Hier zwischen Objektträger und Deckglas sehen wir so einfach gebaute Lebewesen, daß wir nicht mehr wissen, ob wir es mit einer Pflanze oder mit einem Tier zu tun haben, erlernen aber, daß die Pflanzen unter sich und mit den Tieren blutsverwandt sind und daß die in der Deszendenzlehre zum Ausdruck kommende Auffassung die grundlegende Theorie der Biologie ist.

Was nun die faunistischen Studien anbetrifft, so möchte ich auf zwei Tiergruppen hinweisen, die schon manchem Naturfreunde eine Quelle reiner Freuden geworden sind. Es ist die Vogel- und Insektenwelt. Mehr als es bisher geschehen ist, sollten wir Beobachtungen machen über das Kommen und Gehen der Vögel, über ihren Nestbau und ihr Familienleben, über ihren Flug und ihre Nahrungsaufnahme; und wie wundervoll, zur Nachahmung geradezu anreizend, paart sich bei Vögeln der harte Kampf ums Dasein mit immer heiterer fröhlicher Lebenserfassung. Von ausschlaggebender Bedeutung ist, daß die Brücke zwischen dem Beobachter und der Vogelwelt durch die zwei höheren Sinne geschlagen wird, während meist nur der Gesichtsinn infrage kommt. In den meisten Fällen gibt hier sogar das Ohr viel schnellere und sichere Auskunft als das Auge; während dieses noch unsicher tastet,
wissen wir meist schon nach Anhören eines einzigen Liedchens, welchen Vogel wir vor uns haben.

Viel mannigfaltiger sind die Beziehungen der Insekten zum ganzen Naturhaushalt. Ein Teil von ihnen lebt räuberisch, ein anderer parasitisch, die bei weitem meisten aber leben von pflanzlichen Stoffen, und es gibt keinen Teil des Pflanzenkörpers, keinen pflanzlichen Ausscheidungsstoff, für welchen sich nicht irgend ein Liebhaber unter ihnen findet. Viele Insekten werden durch ihren Blumenbesuch zu gesetzmäßigen
Vermittlern der Fremdbestäubung ihrer Futterpflanzen. Sehr mannigfaltig und hochentwickelt sind die Instinkte des Nestbaues, der Ernährung und der Brutpflege, insbesondere beiden staatenbildenden Bienen, Wespen und Ameisen. Hier bietet sich gerade eine ungeheure Fülle von Beobachtungsmöglichkeiten, die den Forscher zwingt, sich einer besonderen Insektengruppe zuzuwenden. Schmetterlinge und Käfer haben schon manchen Sammler gelockt, aber auch die Netzflügler, Zwei-, Haut- und Gradflügler sind teilweise noch wenig in ihrer Lebensweise bekannt und würden dem Forschenden ein dankbares Arbeitsfeld geben.

Wer sich nun einem der Teilgebiete der Biologie zuwendet, in der ernsten Absicht, sich forschend zu betätigen, wird auf seinen Wanderungen und Beobachtungsgängen manche auffallende oder seltsame Naturschöpfung treffen: z. B.

  1. einzelne durch Alter, Schönheit oder besondere Wuchsform ausgezeichnete Holzgewächse,
  2. seltene Arten und Formen, die auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt sind, besonders auch kleine Pflanzen und Tiere,
  3. Pflanzen- und Tiergemeinschaften, die durch Seltenheit, durch Reichhaltigkeit oder durch ihr eigenartiges Gesamtleben oder sonstwie wissenschaftliche oder ästhetische Bedeutung haben.

Diese Naturgebilde zu schonen und zu schützen ist Aufgabe des Heimatforschers und in solcher Betätigung wird er zum Naturdenkmalpfleger. Das Wort „Naturdenkmal“ wurde schon 1819 von Alexander Humboldt gebraucht und erst fast 100 Jahre später von Conwentz, dem früheren Leiter der staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege, in Benutzung genommen. Er versteht unter Naturdenkmal: „besonders charakteristische Gebilde der heimatlichen Natur, vornehmlich solche, die sich noch an ihrer ursprünglichen Stätte befinden, seien es Teile der Landschaft oder Gestaltungen des Erdbodens oder Reste der Pflanzen- und Tierwelt.“ Die Naturdenkmäler sind Zeugen der Vergangenheit unserer Heimat, von der allein sie noch dem Forscher sichere Kunde geben und darin durch kein Buch oder Bild zu ersetzen sind. Im Laboratorium, in zoologischen und botanischen Gärten, ja selbst oft in der scheinbaren Freiheit herrschen teilweise ganz unnatürliche Versuchsbedingungen, die leicht Fehlschlüsse veranlassen können; nur am Naturdenkmal, am besten im Naturschutzgebiet, waltet
die Natur so frei, als es überhaupt bei uns erreichbar ist. Naturschutzgebiete dienen also nicht nur zur Erhaltung gefährdeter Pflanzen- und Tierformen, sondern auch zugleich der Erforschung des Pflanzen- und Tierlebens.

Wenden wir uns nun dem zweiten Hauptteile, der Kultur der Heimat zu. Schon in den allerältesten Formationen weist uns die historische Geologie niederste Lebewesen des Pflanzen- und Tierreiches nach. In bunter Mannigfaltigkeit erscheinen sie und verschwinden im Lause der Jahrmillionen, um andern Platz zu machen. Erst spät erscheint der Mensch. Aber was wissen wir von ihm aus den Anfängen seines Seins? Eine Summe von Zahlen und Geschehnissen aus der alten Geschichte, zurück bis 2—3000 Jahre vor Christi Geburt, haben wir uns eingeprägt, wissen über Babylonien, Assyrien und die alten Aegypter Bescheid; — doch wie sah es zu derselben Zeit in unserer Heimat aus? Darauf versucht die Vorgeschichte, eine noch junge Wissenschaft, Antwort zu geben, vornehmlich an der Hand von Bodenfunden, die in den Museen aufbewahrt werden. Auch hier kann sich der Heimatforscher betätigen als Handlanger der Wissenschaft. Bei seinem Umherstreifen im Gelände, beim Untersuchen von Kiesgruben und Geröllanhäufungen werden ihm schon Scheiben zu Gesicht gekommen sein, die verziert oder unverziert, teilweise lose umherlagen oder auch noch in einer oft stark verfärbten Stelle der Steilwand saßen. Das ist vorgeschichtliches Material, das für den Heimatforscher von allergrößter Bedeutung ist; denn diese Scherben sind Siedlungsrest: von einer Menschengruppe, die kürzere oder längere Zeit am Orte verweilt hat. Die Schulkinder sind zu ermuntern, ähnliche Stücke beim Hüten oder Arbeiten auf dem Felde zu sammeln und sie beim Lehrer abzugeben. Die nach Zeit und Ort verschiedenen Stücke sind auch besonders und mit entsprechen der Kennzeichnung aufzubewahren. Auch die Bauern und Tagelöhner sind auf den ideellen Wert solcher Funde hinzuweisen und zu veranlassen, daß sie sofort Mitteilung geben,
falls sie beim Pflügen auf Gräber stoßen, und daß sie von dem weiteren Graben Abstand nehmen, damit das Boden gut von berufener Seite fachgemäß gehoben wird. Ungezählte Gräber sind aus Unwissenheit oder auch aus Mutwillen vernichtet worden. Hier gilt es nun zu beobachten und schützen. Jeder Feuersteinsplitter sollte untersucht werden, ob er bearbeitet ist, denn aus der Steinzeit fehlen uns die Belege für das Palacolithikum, die ältere Steinzeit, während das Neolithikum, die jüngere Steinzeit, mehr oder weniger gut vertreten ist. Bronzefunde gehören nicht immer der Bronze
zeit an, sie können aus der Eisenzeit, sogar aus der Wendenzeit stammen. Die in unserm Kreise gefundenen fünf Schläfenringe aus einem Windengrab waren schön grün patiniert, so daß man unter der Patinaschicht Bronze vermuten kennte: die Ringe bestehen aber aus reinem Kupfer mit Silberbelag. Wie wenig man sich um solche Fundstücke kümmert, kann man des öfteren erleben, so fand ich zufällig in einer Küche ein Steinbeil, das die Kinder gefunden hatten. Zwei Spinnwirteln saßen auf einer rusischen Rechenmaschine als Ersatz für zwei verlorengegangene Kugeln. Wenn ich nun bitte auf solche Stücke ganz besonders zu achten, so hat es seinen Grund
darin, daß wir seltene Pflanzen und Tiere gewiß immer noch einmal an einer andern Stelle der Erde antreffen, die Bodenfunde aber, wenn einmal vernichtet, durch nichts zu ersetzen sind.

Ein alter Schmied, der von einer mittelalterlchen Wasserburg einst wertrolle Fundstücke besaß und sie lange aufgehoben hatte, sagte mir, daß er alles an den Lumpenhändler
verkauft, weil sonst niemand danach gefragt hätte. Wir müssen uns also bemühen und nachforschen, denn die geringste Scheibe kann oft für den Siedlungsgang von größter Bedeutung sein. Wo solches Fundmaterial endgültig aufbewahrt werden soll, ist eine spätere Sorge. Das Wichtigste ist, daß es überhaupt gesammelt und geschützt wird. Seine endgültige Aufbewahrung kann nur da erfolgen, wo es wissenschaftlich aus
gewertet und allen zugänglich gemacht werden kann. Ich will nicht unterfassen, darauf hinzuweisen, daß nicht das Steinbeil, nicht das Bronzegerät, oder sonst ein Fundstück für die Wissenschaft das Bedeutsamste ist, nein, wichtiger sind uns oft die Nebenumstände, wo und wie die Stücke im Grabe gelegen und wie die Lage zu andern Resten war, von denen der Laie zumeist nichts sieht. Notwendig ist es, falls ein
Fachmann nicht zugegen sein sollte, die Lageverhältnisse zeichnerisch festzulegen.

An die Vorgeschichte schließt sich die Heimatgeschichte. Der Forscher beginne mit der Geschichte der Schule, der Kirche, des Dorfes, oder auch mit einer Familiengeschichte,
vielleicht seiner eigenen. Dann durchstöbere er für Dorfeingesessene die Kirchenbücher und bringe ihnen die Ergebnisse. Sie werden sich augenblicklich dafür und dann auch für die weitere Arbeit interessieren. Sind die Bauern erst gewonnen,
so werfe er den Gedanken in eine Bauern- oder Bürgergesellschaft: Wo saß wohl euer Vorfahr z. Zt. der alten Germanen? Hat er etwa Kriege Karls des Großen mitgemacht? Wie stellte er sich zur Reformation? Wurde auch sein Besitz im dreißig jährigen Kriege verbrannt? usw. Das gibt zunächst sprachlose Gesichter. Aber die Fragen sind natürlich alle berechtigt, denn selbstverständlich haben unsere Vorfahren das alles an ihrem Leibe erlebt. Wären sie nicht, dann wären auch wir nicht. Wir betrachten die geschichtlichen Ereignisse viel zu objektiv. Sie können gar nicht persönlich genug aufgefaßt werden. Die Weltgeschichte ist ein Stück Familiengeschichte. — Einige Fingerzeige für die Arbeit im einzelnen.

Die Heimatgeschichte steht im Rahmen der Geschichte des deutschen Volkes. Den Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte darf sie nie vermissen lassen. Darum ist ein ein gehendes Studium der allgemeinen Geschichte unbedingt Voraussetzung. Der Beginn der Arbeit besteht also darin, sich eine gute Kenntnis der allgemeinen Geschichte anzueignen.

Für eingehendes Studium einzelner Abschnitte muß Spezialliteratur herangezogen werden. Auskunft gibt die Bibel des Historikers: Dahlmann=Waitz, „Quellenkunde der
deutschen Geschichte.“ 8. Aufl. Leipzig 1912. Natürlich kann man sich bei dem heutigen Gehalt die Spezialliteratur nicht immer kaufen. Das ist auch nicht nötig. Man fährt aber auf einige Tage nach Greifswald, — wozu haben wir denn eine
Universitätsbücherei in unserer Provinz — setzt sich in die Universitätslesehalle und macht dort seine Notizen. Man notiert genau Titel und Erscheinungsort der in Frage kommenden Bücher und läßt sie sich von der Universitätsbibliothek an seinen Wohnort schicken. Auch die Stadtbücherei in Stettin gibt Auskunft und verleiht. Sollten Bücker in
mehreren Bibliotheken nicht zu haben sein, so wende man sich unter Beifügung des Rückportos an das Auskunftsbüro der deutschen Bibliotheken in Berlin N. W. 7, Dorotheenstraße 81, das alsbald benachrichtigt, wo sich das gewünschte
Buch befindet.

Zu diesen geschichtlichen Ueberlieferungen kommen die Ueberreste, das sind de unmittelbaren geschichtlichen Zeugen, z. B. unsere Heimatkirche, ein Hünengrab, Kloster, eine Burg. Hausinschriften usw. Hier muß sich der Forscher dazu
erziehen, solche Ueberreste zu erkennen und sie auch geschichtlich auszuwerten. Herzu helfen die Urkunden. Ungedruckte Quellen findet der Forscher in den Archiven. Alles gedruckte Material (Literatur und Quelle) muß bekannt sein, bevor er sich an das Archivstudium begibt. Die am bequemsten zugänglichen und zunächst durchzuarbeitenden Archive sind das Schul- und Pastoratsarchiv, dann das des Gemeinde- und Amtsvorstehers. In der Stadt kommt das städtische Archiv in Frage, auch Katasteramt und Amtsgericht müssen aufgesucht werden, die Laden alter Innungen, Gilden, Schützenbrüderschaften, Stiftungen und Musen. Das preußische
Staatsarchiv in der Provinz ist die reichste Fundgrube. Die Archive sind zu Forschungszwecken jedermann zugänglich. In ihren Räumen ist ein Lesezimmer, in dem die Einsicht in die Akten und ihre Bearbeitung erfolgen kann. Die Ueberreisung der Aktenstücke in den Heimatort ist möglich, erfolgt aber nicht an eine private Adresse, sondern an eine Behörde oder öffentliche Bibliothek. Als Hilfswissenschaft dient die
Siedlungsgeographie, ein schwieriges Kapitel; aber wer ernstlich forscht, wird auch hier vorwärts kommen. Sprache und Mundart müssen geprüft, Orts-, Flur- und Familiennamen untersucht werden. Orts- und Flurnamen sind fast ausnahmslos so alt wie die Siedlung selbst. Der erste Siedler gab dem Haus, Ackerstück, Wald oder Wese den Namen, der dann von den anderen übernommen wurde. Jüngere Flurnamen sind
meist leicht zu erkennen. Die älteren Namen haben sich sprachgeschichtlich ähnlich verändert wie die Sprache selber, dabei aber doch so manche willkürliche Veränderung erfahren, daß man bei der Deutung oft auf Schwierigkeiten stößt. Ich bitte darum äußerst vorsichtig zu sein und wenn möglich, mit einem Germanisten oder Historiker zusammenzuarbeiten. Es kommen sonst zu leicht Trugschlüsse zustande, die schon
viel Unheil angerichtet haben. Dorfanlage und Hausbau, Fluranlage und Fluraufteilung, wie auch die vorgeschichtlichen Funde sind gleichfalls zu berücksichtigen.

Unmittelbar an die Heimatgeschichte schließt sich die Volkskunde, das Ergebnis der schaffenden Volksphantasie, des Volksdenkens und -fühlens. Das Volk denkt nicht wissenschaftlich, sondern unkritisch. Es ergreift und gestaltet die die Erlebnisse nicht mit dem Verstande, sondern mit Phantasie und Gemüt. Das tat es vor Jahrhunderten und Jahrtausenden und das tut es noch heue, das tut das spielende Kind und das märchenerzählende Mütterlein. Hier müssen wir die Volksseele belauschen in Märchen und Sage, Sitte und Brauch, Sprichwort und Volkslied. Die Stellung der Wissenschaft zu dem Märchen hat sich im 19. Jahrhundert mehrfach geändert. Die Ansicht der Brüder Grimm, daß die Märchen Reste der germanischen Heldensagen seien, ist auf
gegeben, ebenso der Versuch, sie als Naturmythen zu erklären, auch daß die Märchen aus Indien stammen, ist widerlegt worden. In allen Anschauungen steckt ein richtiger Kern. Aus der Heldensage sind Motive ins Märchen gewandert (Machandelboom), Indien und Arabien haben mit ihrer reichen Märchenwelt das deutsche Märchen befruchtet, so stammt aus Indien das Motiv vom Tischlein deck‘ dich, aus Tausend und eine Nacht das Märchen vom Simeliberg. Die heutige Forschungsmethode ist die geographisch=geschichtliche. Sie betrachtet die Fülle der Motive, sucht ihr Vorkommen zu umgrenzen, sucht die Wege ihrer Wanderungen und schließt aus der Mannig
faltigkeit der Varianten auf ihre Heimat. Hier findet der Heimatforscher wissenschaftliche Arbeit, durch die er der Forschung einen unschätzbaren Dienst leistet.

Die Sage, die volkstümliche Gestaltung feststehender Tatsachen spielt besonders als Orts- und Lokalsage eine Bedeutung. Wo dem Volke irgend etwas auffällt, sucht es nach einer Erklärung, nach einem Grunde. Da sieht es z. B. einen erratischen Block, einen Findling im Acker. Wie mag der dahin gekommen sein? Von der Inlandeisbedeckung weiß es nichts. Menschenhände können ihn nicht hergetragen haben, da kann es nur ein Riese, ein Teufel gewesen sein. Unzählig sind die Varianten von Riesen- und Teufelssteinen in unserer einst an Findlingen so reichen Heimatprovinz
Die Grenze zwischen Märchen und Tage wird meistens verwischt. In vielen Sammlungen, die als Märchen oder Sagen überschrieben sind, werden unkritisch beide geboten. Das muß der Heimatforscher vermelden und es sich zur Regel machen,
Erzählungen, die an eine geschichtliche Persönlichkeit, ein geschichtliches Ereignis oder eine gegebene Erscheinung an knüpfen, nur als Sagen zu bezeichnen.

Die Sitten und Gebräuche, all die alten Gewohnheiten, die wir besonders noch auf dem Lande finden, lassen sich am besten in drei große Reihen zusammenfassen:

  1. solche, die sich auf das Menschenleben beziehen, Geburt, Wochenbett. Taufe, Werbung, Verlobung, Hochzeit, Krankheit, Tod;
  2. solche, die an die Feste des Jahres anknüpfen:
  3. solche, die Ackerbau und Viehzucht begleiten.

Dazu ein paar Beispiele aus unserm Kreise. Wenn das Kind nicht die Muttermilch trinken will, auch sonst unruhig ist wird es durch das Brautkleid der Mutter gezogen.

Es soll dem Kinde früh viel gezeigt werden, denn worauf das Kind schaut, das kann es später selbst herstellen.

(Fortsetzung folgt.) (Schluß.)

Ein Kind darf nicht im Schlaf bewundert werden. — Einem älteren Kollegen war es schon lange aufgefallen, daß die Mutter, wenn sie nach der Entbindung ihren ersten Kirchgang hielt oft einen kleinen Leinwandlappen oder Wattebausch in der Kirche niederfallen ließ. In einer benachbarten Gemeinde erfuhr ich, daß die Mutter das Leinwandläppchen, das zuvor auf dem Nabel des geborenen Kindes gelegen hat, verschwiegen hinter der Bank niederfallen läßt, wenn der Pastor den Segen spricht. — Die Auswahl der Paten nach ihrer körperlichen und geistigen Qualität scheint
für die Entwicklung des Kindes von außerordentlicher Bedeutung.

Von den Hochzeitsbräuchen hier einige. Nach der Trauung muß das junge Paar oft noch vor der verschlossenem Tür stehen und erst in ein Stück Brot beißen, ehe es ein gelassen wird, damit ihm später das Brot im Hause nicht fehle.

Auf dem Wege zur Kirche soll sich die Braut nicht um sehen, denn sonst sieht sie sich später auch nach einem andern Mann um.

Zuerst Brot und Besen ins Haus. Glück herein, Unglück hinaus! Wo aber Unglück in irgend einer Form erscheint, da soll es verscheucht werden. Es gibt sowohl in Vorpommern wie in Hinterpommern in allen Dörfern immer noch Heilkundige, die die Fähigkeit des Besprechens besitzen. Was sie murmeln ist oft sinnlos. Aber immer kann man noch die zwei Teile der uns bekannten Merseburger Zaubersprüche aus
dem 10. Jahrhundert erkennen, die epische Erzählung und den formelhaften Schluß, die eigentliche Beschwörung. Die Schlußwendung ist jetzt: „Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.“ So werden besprochen: das Blut, die Rose (Kopf= und Gürtelrose), die trockne.
und die nasse Flechte, der Adel im Finger (Panarieium), die
Geschwulst, Kopf= und Zahnweh.

Auch das Vieh wird besprochen, so z. B. beim Verfangen:

Hest du die vergrepen im Water, so help di
uns Herrgott und sin Vadder.
Hest du die vergrepen im Wind, so help di
uns Herrgott und sin Kind.
Hest du di vergrepen im Futter, so help di
uns Herrgott und sin Madder.

Dabei zieht die besprechende Person drei Mal am Schwanz des Tieres.

In diesen Zusammenhang gehört auch der Geisterglaube und der Glaube an den bösen Blick, durch den Menschen und Tiere gebannt werden können. Verlassen wir dieses düstere Kapitel und wenden uns der schattigen Dorflinde zu, wo fröhliche Volkslieder uns entgegenklingen. Wir kennen das Volkslied und seinen hohen Wert, haben aber doch noch nicht alle Volkslieder gesammelt. Dabei ist zu beachten, daß das Volkslied im engeren Sinne nicht von der Melodie zu trennen ist. Melodie und Text ergeben erst ein Volkslied. Das beweisen die Kehrreime, die beim Aufsagen oft leicht lächerlich
wirken, aber erst im Gesang ihren ganz bestimmten Stimmungswert erhalten, den der Dichter in sie hineinlegte. Darum darf kein Volkslied ohne Melodie gesammelt und ge
druckt werden. Hierher gehören auch die Kinderreime und Volkstänze, die wieder zu neuem Leben geweckt werden müssen, wie es an einzelnen Orten schon mit Erfolg geschehen ist.

Die Volksseele offenbart sich auch in der Volkskunst. Wie schön und zweckmäßig ist das alte Hausgerät, wie schmuck die alte Volkstracht. Hier gilt es besonders den Landmann darauf aufmerksam zu machen, daß der in der Inflationszeit so vielfach eingekaufte blinkende Plunder nicht zu seinem Leibe noch zu seinem Hause paßt. Alte ehrwürdige Stücke, die häufig auf dem Boden umherstehen, sind den Besitzern wieder wertvoll zu machen. Liegt Gefahr vor, daß dieses Heimatgut verdirbt, ist es Aufgabe des Heimatforschers, es einem Museum zuzuführen. Sehen wir einmal auf dem Boden, in den Kellern und Holzställen nach, manch wertvolles Stück ist noch zu reiten. Dort liegen noch die alten Kämme und Schärbretter und all die Webe- und Spinngeräte früherer Zeit, oft zierlich geschnitzt von jungen Burschen bei Kien oder Oellicht, um die Braut zu Weihnachten damit zu überraschen. Die Fabriken haben bei ihrer Massenerzeugung und ihren Schleuderpreisen die künstlerische Betätigung auch des einfachen Mannes fast ganz zurückgebunden und den guten gesunden Geschmack vielfach verdorben. Hier ist es höchste Zeit, daß wir dem Handwerker unter Hinweis auf die vortrefflichen Arbeiten früherer Zeit wieder zu gediegenem Schaffen behülflich sind. Graben wir auch einmal bei den alten Handwerksmeistern, bei den Zünften und Innungen und in ihren Laden und Truhen, verfolgen wir das einzelne Handwerk, auch das ausgestorbene, bis in die tiefsten Wurzeln, so werden wir oft wertvolle Entdeckungen machen. Und nun komme ich zum Schluß.

Die Aufgabe des Heimatforschers ist kurz umrissen. Der einzelne kann natürlich nicht alle Dinge zu gleicher Zeit treiben, aber wähle er das Gebiet aus, das seinen Neigungen und Kräften entspricht. Er findet gewiß einen Freund in der Nachbarschaft, mit dem er sich über die Aufgaben und Erfolge aussprechen kann. Wir haben es hier in Kolberg so versucht, haben uns zu einer geologischen, biologischen, vorgeschichtlichen und zu einer Geschichtsgruppe zusammengeschlossen. Was beobachtet, gesammelt und erarbeitet ist, wird im Heimatmuseum ausgelegt, an dessen Entwicklung wir während des Sommers besonders gearbeitet haben. Wer die Anfänge einer solchen Betätigung verfolgen will, dem stehe ich heute Nachmittage von 1 Uhr bis zur Dämmerung in den beiden Museumsräumen im Lyzeum, Luisenstraße, zur Verfügung, wo auch der schwere goldene Ring, der hier bei Petersitz gefunden,
zum ersten Mal ausgelegt werden wird und an Größe und Schönheit nicht seinesgleichen in unserer Heimatprovinz hat.

Was hier in meinem Vortrage bei der Fülle des Stoffgebiets nur angedeutet werden konnte, wird auf der kommen den Heimattagung Ostern nächsten Jahres in Stolp eine besondere Würdigung erfahren. Wir aber wollen nicht erst auf diese Vorträge warten, sondern uns schon heute einen Plan machen, wie und womit werde ich meine Heimatforschung beginnen, dann sind wir erst recht in der Lage, den tiefgründigen Vorträgen, die unser dort warten, zu folgen und uns — zum Segen der Heimatforschung — erfolgreich an der Aussprache zu beleiligen.

Wollen wir unsern Unterricht lebensvoller gestalten, wollen wir tiefe Freude wecken, reichere Befriedigung für uns gewinnen, so müssen wir mehr, als es bisher geschah, uns der Heimatforschung zuwenden. Es ist notwendig, daß wir uns in unserer Provinz zu einer Heimatgemeinde zusammenschließen, deren Glieder gewillt sind, wissenschaftlich zu arbeiten.

Unsere Heimat wartet auf uns. Die Nachbarprovinzen sehen auf uns. Auf denn zu fröhlicher Arbeit!


Aus dem Lande Belgard : Monatsblätter der Pommerschen Zeitung für Belgard, Schivelbein, Bad Polzin / Belgarder Kreisverein für Heimatkunde, 3. Jahrgang, 1924, S. 67 f., 77, 78 ff., 84 f.  (UB Greifswald digital)


Das Wikidata-Item dieser Edition und Versionen ist (Q114588979).

Diese Kleine Edition entstand im Kontext des diesjährigen Kulturhackathons der UB Rostock. Der Fund des vorliegendes Artikels geht auf die Suche nach historischen Walnüssen in der digitalen Bibliothek MV zurück.

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