Sechs Jahre sind seit 2015 vergangen. Mein Unfall kurz vor der Fahrt zum Bibliothekartag nach Nürnberg verhinderte auch den Aufenthalt im nahegelegenen Ortspitz: hier sitze ich heute wieder. Seitdem wurden Häuser gebaut, umgebaut und abgerissen. Das Walberla steht noch. Gasthäuser suchen Personal, händeringend. Denn die Biere, blaue Zipfel und das Kren schmecken noch immer. Glück gehabt.
Vor zwei Jahren entstand die Idee von den vergangenen Jahren zu berichten, seit 2015. Einerseits, weil die Reportagen von Nils Kopp wie auf den Kopp gefallen, wichtig und nützlich und Vorbild sind, um zu verstehen wie Schädel-Hirn-Trauma (SHT) wirken; andererseits, um selbst nicht zu vergessen. „Fünf Jahre wird er wohl brauchen, um sich davon zu erholen“, hätte jemand für sich gedacht 2015, erzählte er vor ein paar Wochen. Tatsächlich verblassen eigene Erinnerungen an meinen Heilungsprozess inzwischen, die 2019 noch deutlicher waren. Seitdem (2019) wäre der Eindruck, den ich nun hinterlasse ein anderer, z.B. die Holperer im Redefluß verschwunden, hieß es gestern.
Was ein SHT bedeuten kann, lernen alle Beteiligten erst in den Wochen, Monaten und Halbjahren danach: Angehörige, Familien, Kolleginnen und Kollegen. Insofern mögen diese Zeilen vielleicht einen Eindruck geben; vielleicht sind sie jemandem Hilfe, auf irgendeine Weise. Zeit braucht das alles sowieso. Als MeH (Mensch mit erworbenem Hirnschaden) setzt man sich gezwungenermaßen mit seiner Hirnverletzung auseinander, reflektiert und lernt so gut geht es geht. Andere dürfen mit diesen neuen Umständen auch umgehen lernen, stecken aber selbst nicht drin. Wie auch?! Und, das erscheint im Rückblick wichtig, sie wären mit Infos und Wissen über SHT & MeH möglicherweise überfordert und vielleicht besser auf all dies vorbereitet gewesen (Reizbarkeit, Erinnerungslücken, Vergesslichkeit, Persönlichkeitsänderungen) soweit das überhaupt möglich ist. Überfordert waren wir (Familie, Umfeld: privat und beruflich) streckenweise mit mir alle, mit dem SHT und den Auswirkungen. Nils Kopp zeigt das gut in seinen Reportagen: Wieder leben lernen – ein Schädel-Hirn-Trauma und seine Folgen (2010). Ein erstes (und gutes) Angehörigengespräch hatten wir am Ende meiner Therapie in der Uniklinik in Leipzig, fast ein halbes Jahr nach dem Unfall. Das war reichlich spät, denke ich.
Ich verbrachte nach den Wochen in der Uniklinik in Dresden einige Wochen im Juli und August 2015 in neurologischer Reha in Kreischa … ging dort auch wandern und Himbeeren pflücken. Die Therapie der Tagesklinik an der Uni Leipzig (Kognitive Neurologie) im November und Dezember 2015 dauerte sechs Wochen und war vermutlich grundlegend, für die berufliche Wiedereingliederung 2016 sowieso, und im Detail z.B. in Bezug auf die orthoptische Therapie:
Die Wochen in Leipzig habe ich genossen: tägliches Pendeln von Dresden, neue Routinen, fremde Wege gehen. (Was vermutlich viel mit Leipzig selbst zu tun hat. Die Stadt ist cooler als Dresden.) Weihnachtsmärkte im Dezember.
Wie macht sich der Unfall bemerkbar (die Verletzungen, bleibende Defizite)? Die Frage wurde hin und wieder gestellt, inzwischen seltener. Ich erinnere mich an das Warten auf Busse, die laut Fahrplan in wenigen Minuten kommen. Und während des Wartens beginnt mein Gehirn unruhig zu werden: kein Bus kommt um die Ecke (denn es fehlen noch zwei Minuten!), die Unruhe nimmt trotzdem schnell zu: vermutlich kommt der Bus nicht!?! … Unruhe, Zweifel, Unruhe, kalt wars auch … der Bus kam dann nach zwei Minuten trotzdem (ganz normal). Gefragt nach einer Erklärung für diese ‚innere Panik‘ erklärte mir ein Neurologe, dass durch das SHT möglicherweise Hirnareale geschädigt wurden, die dafür zuständig sind Erwartungen und Realität abzugleichen (wenn ich mich richtig erinnere). Beim Warten auf Busse passiert genau das mehr oder weniger im Sekundentakt. Weiterlesen